Eine Livehölle auf acht Beinen

Tackleberry, Cobretti, Onsind, No Guts No Glory, We Once Loved / 08.12.2012 – Kiel, Alte Meierei

Philipp: Kann und darf es sein, dass man sich auf ein Ereignis mit irgendwie ja traurigem Anlass freut? Das Testament der schrecklichen Oma? Das Comeback von Berlusconi? Den jährlichen Bettwäschewechsel? NEIN; weil Tackleberry BLEIBEN MÜSSEN! DOCH; weil es ein so herrlich EMOTIONALER ABEND wird! NEIN, DOCH, NEIN, DOCH, NEIN, DOCH, NEIN, SCHNAUZE!

„Keine Reunion vor 2013. Darauf geben wir unser Ehrenwort.“

Die Schlange vor der Meierei ist so übertrieben lang. Da werden Erinnerungen an den JUST-WENT-BLACK-Abschied wach. Wir sind schlau und stellen uns von der rechten Seite des Treppgens her an. Geht viel schneller und macht sonst keiner. Komisch.

Den Triple-Trauerflor tragen Pan, Toffi und Philipp

Toffi: Was sonst auch (fast…) keiner macht: Heute ausnahmsweise mal überpünktlich vor der Meierei aufschlagen. Als wir kurz vor 19Uhr ankommen, herrscht noch gähnende Leere vor der Tür. Viele kommen dann auch wirklich erst kurz vor knapp, außer der Reisebus voll KölnerInnen, die aber dekadent bis Konzertbeginn in der Wärme ihrer fahrbaren Saufbude sitzen bleiben. Der auf der Plattform wartende Mob versucht sich derweil im Pinguin-Prinzip vor der arktischen Kälte zu schützen (Zusammenrotten und im Intervall von außen nach innen Plätze tauschen). Zwar verzögert sich der zunächst für 20Uhr geplante Einlass ein wenig, dafür gibt es von den Rotten Sprotten einen dampfenden Topf Tee gegen die Frostbeulen kredenzt. Extrem liebe Geste!

Pan: Nachdem ich irgendwann im Sommer gelesen hatte, dass TACKLEBERRY sich auflösen werden, war der Besuch des Abschiedskonzerts bereits eine lang geplante Sache. Ich konnte (und kann) mich auch gar nicht mehr daran erinnern, wann ich die das letzte Mal live gesehen habe, und so war der Konzertbesuch definitiv Pflicht – trotz überflüssigerweise auftretender Hindernisse wie einer Klausur am gleichen Tag und ähnlichem. Egal, wird schon passen, ist schließlich das letzte Konzert.

Zu meiner großen Freude erwische ich dann sogar eine Mitfahrgelegenheit, welche direkt zum Konzert und nachts wieder zurückfährt und damit ist auch das Problem des am-nächsten-Morgen-wieder-nach-Hamburg-Kommens gar keins mehr. Schön. Trotz Schneekatastrophe und „Todesnebel“ (Zitat Mitfahrer) kommen wir überfrüht an der Meierei an und warten in Eiseskälte (-11° in Kiel im Vergleich zu -2° in Hamburg… brr…), bis der Einlass beginnt.

Philipp: We Once Loved waren bereits beim Release-Konz der „Call Me Green“ 2008 mit inner Meierei dabei (Bericht: http://www.dremufuestias.de/index.php?option=com_content&view=article&id=927:cobretti-tackleberry-we-once-loved-the-force-within-egozid–050108–kiel-alte-meierei&catid=15&Itemid=26), haben (wahrscheinlich nicht nur) daher alle Berechtigung, das letzte Kapitel der Tacklestory mitzuschreiben. Schon 2008 wussten sie zu gefallen, heute auch. Wenn ich es richtig mitbekommen habe, gibt es WE ONCE LOVED gar nicht mehr, aber aus reinem Bock auf ein paar Zockungen hat sich die Band offenbar für ein paar Shows reuniert. Passt stilistisch ganz gut zu TACKLEBERRY, gerade zu der Ausrichtung der späteren TB-Songs. Wobei WE ONCE LOVED insgesamt auf der Bühne nicht ganz so wild zur Sache gehen wie ihre Kieler Kollegen. Muss ja auch nicht und macht dennoch Laune.

Toffi: Leider verbringe ich weite Teile des Abends mit stümperhaftem Fotografieren, exzessivem Saufen und eigentlich zum tausendsten Mal in diesem Jahr aufgegebenem Rauchen, weshalb ich gar nicht mal so viel von der Musik mitbekommen soll. Den Auftritt von WE ONCE LOVED würd‘ ich im Nachhinein aber mal mindestens als „solide“ bezeichnen. 😉 Dass sie sich anscheinend wirklich für die Verabschiedung von TACKLEBERRY wieder zusammengefunden haben, finde ich sehr cool. Hardcore is‘ wohl wirklich büsch’n more than music… Das ist Liebe, Alter!

Pan: Noch immer halb durchgefroren gucke ich mir dann die erste Band, WE ONCE LOVED, an. Ich kann zwar mittlerweile alle meine Zehen wieder spüren, dennoch ist es mir absolut unverständlich, wie der Sänger nur mit T-Shirt und kurzer Hose bekleidet auf der Bühne rumtoben kann. Musikalisch haut mich das Ganze dann auch nicht um. Irgendwie mag ich so „langsam“-melodischeren Hardcore nicht. Wenn ich schon Hardcore höre/sehe, dann will ich auch schnelles Geballer, und zwar durchgehend; ich bin halt eher einfach gestrickt ;). Irgendwie springt der Funke bei der Band einfach nicht auf mich über. Kann aber auch gut daran liegen, dass mir immer noch so kalt ist.

Philipp: RICHTIG Hammer dann No Guts No Glory. Die Franzosen sind auch schon mal in Kiel gewesen und hatten bei einem der ersten POWER-Konzerte mitgezockt (und zwar 2009 in der Marthastraße, Bericht: http://www.dremufuestias.de/index.php?option=com_content&view=article&id=1698:no-guts-no-glory-power–170809–kiel-martha&catid=15&Itemid=26). Mittlerweile scheint mir die Band vor allem im Songwriting enorm gereift – die melodiösen Riffs gehen gut ins Ohr und bleiben ebenso wie viele Refrains nachhaltig dort kleben. Und in Sachen Agilität haben sie nicht nachgelassen, ein stetes Herumgehüpfe und überhaupt eine recht energische Performance – dabei immer mit einem Lächeln im Gesicht – überzeugen mich derart, dass ich gleich zwei Vinyls abernte (eine 12“ und eine ebenfalls sehr gelungene 10“, die ich zumindest momentan häufiger auflege).

Toffi: Der Oberknaller! NO GUTS NO GLORY bommeln nicht nur extra für zwei Shows aus Frankreich über Köln nach Schleswig-Holstein, sondern tischen dazu noch dermaßen amtlich auf, als käme nach ihnen nichts Relevantes mehr. Die Mundwinkel kleben konstant an den Ohren, während die Band auf der Bühne für den nächsten Hürdenlauf trainiert und nebenbei einen Hit nach dem Anderen schrammelt. Für mich die Headliner der Herzen!

Pan: NO GUTS NO GLORY finde ich dann ziemlich super. Das Ganze ist extrem energetisch, die Band zappelt und springt über die Bühne, dass ich schon vom Zugucken schwitze und das letzte Kältegefühl sich endlich auch verzieht. Schön, so soll das sein. Ich freue mich sehr.

Philipp: Perfekte Abwechslung im Programm: Die mir bisher nicht bekannten Onsind wurden als „Akustik Punk“ angekündigt. Hä? Punk, das ist doch Hässlichkeit, Krach, der Finger im Arsch des Systems? Nicht immer! Zwei Typen, die sich nur mit Akustikklampfen bewaffnet Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, und sich die Seele aus dem Leib… SINGEN! Hach, nee, wat ist dat schön! Man steht ganz ergriffen vor der Bühne, versteht zwar kein Wort, aber irgendwie doch ganz viel. Der eine Typ singt glockenhell hoch, der andere etwas grummelig tiefer. Kommt absolut HERRLICH, wenn beide gleichzeitig loslegen! Will ich unbedingt nochmal gucken. Bei näherer Recherche ist übrigens auch das textliche Konzept interessant: Es geht zumindest bei der neuesten Platte um Genderklischees in Hollywood-Frauenbildern.

Toffi: ONSIND („OneNightStandInNorthDakota“ in Bezug auf die in vielen Staaten der USA nach wie vor problematischen Abtreibungsgesetze) fallen musikalisch auf den ersten Ton völlig aus dem heutigen musikalischen Rahmen, passen schlussendlich aber doch perfekt ins Programm. Je öfter ich solche akustischen Singer/Songwriter-Geschichten in Kombination mit Hardcore-Bands höre, desto besser gefällt mir die Zusammenstellung. Und natürlich wird hier nicht stumpfe Lagerfeuerromantik propagiert. Stattdessen nutzen ONSIND wie viele ihrer im Hardcore verwurzelten KollegInnen (Meine persönlichen Anlauschtipps: TIGER PAWS, HENRI PARKER, ERIC AYOTTE) mit dem Griff zur Klampfe die Chance Texte und damit Emotionen, Motive etc. in den Vordergrund zu stellen. Der zweistimmige Gesang kommt hier verdammt gut und die Meute klebt den beiden extra aus England angereisten Freaks mit Begeisterung an den Lippen.

Pan: ONSIND überraschen mich dann. Zwei Kerle mit Akustikgitarren singen mit zauberhaft-britischem Akzent feministische Lieder. Zumindest höre ich das aus der Ansage „This song is about being a gender male positive feminist“ so raus. Klingt irgendwie nach komplizierter Musik, aber ist es gar nicht. Stattdessen stehe ich vor der Bühne, versuche noch zu begreifen, was da passiert und höre und gucke einfach nur noch zu. Wahnsinn. „Ganz ergriffen“ trifft es tatsächlich ganz gut und nach Ende des Sets werden die beiden noch für eine Zugabe zurückgefordert. Zu Recht.

Philipp: COBRETTI dürfen heute nicht fehlen. Sie bilden schließlich das andere Ende der Kiel-Köln-Achse und sind sicher nicht daran unschuldig, dass ein ganzer Reisebus (!) aus Köln herangerauscht ist! Heute überzeugt mich die Band wieder, nachdem ich sie auf der JUST-WENT-BLACK-Abschiedssause mal etwas wenig zwingender fand. Lag wahrscheinlich auch an mir. Gibt rein gar nichts an dieser famosen Band auszusetzen, der Sänger hat ‘ne charismatische Röhre, die Musik der Band überhaupt Wiedererkennungswert. Mit viel Energie, aber nicht Bollo, mit frischen Ideen, aber nicht verkrampft new-schoolig, voller Melodien, aber nicht Emo… Zur Belohnung für COBRETTI und für mich hole ich mir ENDLICH das „Trip Down Memory Lane“-Album. Nun kann „Achse“ kommen!

Toffi: Bei COBRETTI brechen im Publikum endlich die letzten Dämme der Selbstbeherrschung. Menschen purzeln scharenweise von der Bühne, in den vorderen Reihen wird Pyrotechnik abgefackelt, der tobende Mob bölkt textsicher ins hingehaltene Mikro und auch die Band ruht sich keineswegs auf ihren Lorbeeren aus, sondern legt sich bis zum letzten Song ordentlich ins Zeug. Wie auch schon bei den Vorgängern gibt es die eine oder andere Lobhudelei auf die Gastgeber des Abends und dann wird es auch schon Zeit für das nicht ewig hinauszögerbare Ende.

Pan: Achja, COBRETTI habe ich zuletzt vor einem Monat im Hafenklang gesehen und da fand ich sie irgendwie lahm. Aber gut, da war ich auch wegen der Vorband da. Entsprechend tendiert heute die Erwartungshaltung gegen Null. Aber, ich bin schon wieder überrascht! So schlecht sind die ja gar nicht! Eigentlich sogar ziemlich gut! Der Mob tobt. Jemand hat eine Konfettikanone! Wenn bei der letzten Vorband alle schon so feiern, wie soll es dann erst bei TACKLEBERRY werden? Highlight am Ende: „All die ganzen Jahre“ von den Hosen als Cover, und das auch noch ziemlich gut.

Philipp: Uh uh, Aufregung liegt in der Luft! Klar, man hat TACKLEBERRY schon oft, nein: SEHR OFT gesehen und zuletzt erst gerade letzte Woche. Aber das hier ist DAS LETZTE MAL, verdammt. Ihr solltet besser GUT sein! Und TACKLEBERRY sind im Vergleich zur letzten Woche wie verwandelt. Nicht, dass sie da scheiße waren, aber es war eben ein völlig lässig heruntergespielter Auftritt in familiärer Runde mit fast mehr blöden Hannes-Ansagen als Musik. Jetzt ist die Situation seriös. Da setzt der Körper Stoffe frei, die ihr nicht im Bier haben möchtet! WAMM! BAMM! DONG! Eine Livehölle auf acht Beinen. Zehn gar! Denn entweder wird Kris oder Torben (beides Ex-Gitarristen, falls es wer nicht weiß) eine zweite Gitarre in die Pranken gedrückt. Das hebt die Chose doch gleich auf ein noch druckvolleres UND dynamischeres Level. Geil auch das Gebölke von Kris, das sind so Nuancen, bei denen ich gar nicht gemerkt hatte, wie viel sie doch im Gesamtklangbild ausmachen. Selbstgebasteltes Konfetti regnet durch die Meierei und TACKLEBERRY holen wirklich alles aus ihren Songs, was da an Potenzial drinsteckt: Energie, Verzweiflung, Wut, Leidenschaft. Zum Runterkommen die zynischen Texte, die übrigens viel zu selten gelobt werden (deshalb hier: großes Lob). Der vielleicht dollste aller dollen Momente: „Get The Party Started (Without Me)”! LET THE CHANGE BEGIN! I WILL NEVER BE THE SAME AGAIN! Holy shit, bei dem Song wackeln wirklich die Wände der Meierei. Ansonsten? Noch mehr Konfetti, heulende Menschen, stagedivende Menschen…

Toffi: Minutenlange Dunkelheit und nervöses Fußgescharre, ein herzzerreißendes Intro (König der Löwen, haha!), dann endlich Licht und Action. In Sekundenbruchteilen ergießen sich Regenwälder von DIY-Konfetti auf die Bühne, noch mehr Pyrogelöt zaubert rote Nebelschwaden in den ansonsten heute rauchfrei gehaltenen Saal. Viel schöner hätte sich den Scheiß vermutlich keiner der Beteiligten vorstellen können. Natürlich sind TACKLEBERRY nicht ansatzweise mit der „Probe“ der vorigen Woche vergleichbar, sondern lassen es noch einmal so richtig scheppern. Mir wird es irgendwann zu blöd mit der Kamera am Bühnenrand hin und her gequetscht zu werden, weshalb ich selbige in Sicherheit und mich in den Pit manövriere. Den TACKLEBERRYs wird eine Sektpulle gereicht, Hannes saut damit die Meute ein. Alles klebt, alles grinst, und dann ist alles aus. Als zu geschwenkten Feuerzeugen „Candle In The Wind“ aus den Boxen seiert, rafft dann auch jeder, dass es das jetzt endgültig gewesen ist. Danke TACKLEBERRY. Tschüss TACKLEBERRY.

Pan: Das Intro aus „König der Löwen“ lässt Schreckliches ahnen. Übertriebene Dramatik zum Abschied und so. Oder machen die das immer so? Ich kann mich beim besten Willen noch immer nicht daran erinnern, wann ich das letzte TACKLEBERRY-Konzert besucht habe…

Aber dann geht’s auch schon los und der letzte vernünftige Gedanke verlässt meinen Kopf. Von Anfang an ist der Mob völlig entfesselt, Konfetti fliegt in rauhen Mengen, Bierfontänen schießen über die Köpfe. Zum letzten Lied gibt es noch eine Flasche Sekt aus dem Publikum, welche Hannes komplett über diesem verteilt. Und wo kommen eigentlich alle diese Stagediver her?

Fazit: Der Wahnsinn! Und ein definitiv würdiger Abschied.

Philipp: Ja, so darf ein Abschied aussehen. Würdiges Ding. Danach trocknen die Tränen und wie neulich im Hafermarkt auf der Geburtstagsparty von Horst Spider tanzt der Mob nach dem Konz einfach weiter. Das mag ich, denn sonst verlässt ein Großteil ja doch recht schnell den Klub. Der Reisebus der Kölner_innen soll aber auch erst um 4:30 Uhr oder so zur Abholung zurückkehren. Daher wär ein Partystopp unhöflich. Also entspinnt sich ein feiner Leichenschmaus zu der von JoyBoy ausgewählten Musik (ein wilder Ritt durch die Musikgeschichte…). NEVER REUNITE!

Toffi: Fazit? Aua an Finger, Bein und Kopf. Solider Abend.

Pan: Auch das eigentliche Ende der Konzerte um 1.00 Uhr tut der Stimmung keinen Abbruch und so wird einfach zu Konservenmusik weitergefeiert. Ist das etwa die berüchtigte köllsche Stimmung, die da überschwappt? Oder einfach ‘ne verdammt gute Aftershowparty? Besonders schön und erwähnenswert hierbei das Pseudo-Gitarrensolo zu „Bohemian Rhapsody“ von einem der NO GUTS NO GLORY-Jungs. Allein das wäre schon Eintritt wert gewesen. Auf jeden Fall ein runder Abend.

Dank andauernder Schneekatastrophe auf der Rückfahrt brauchen wir später auch nur läppische 2 Stunden nach Hamburg. Hat sich gelohnt. Alles. Ich mag Kiel.

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