Nahezu psychofrei

Schönes Erlebnis auf der Post: Eine Frau sagt abfällig: „Hier laufen echt nur Psychos rum. Kiel ist so scheiße, das ist echt nicht meine Stadt“. Ganz unrecht hat sie ja nicht, denke ich, aber wo kommt sie wohl her, wo es offenbar KEINE oder DEUTLICH WENIGER MUTANTEN gibt? Also sprech ich sie an: „Aus welchem paradiesischen, psycho-freien Ort stammen Sie denn?“ Und sie (nach einem kritisch-abschätzenden Blick): „AUS NEUMÜNSTER!“
Nahezu psychofrei (da kann man sich aber sicher drüber streiten) dann jedenfalls abends die Meierei. Hautgesprächsthema ist natürlich das Ultimatum der Stadt, welches so ziemlich alle auf die Palme gebracht hat.

Ganz gut gefüllt isses, als The Disturbers den Reigen eröffnen. Gleich beim ersten Song klappen viele Unterkiefer runter! So eine Qualität hat dann trotz oder wegen Lewes Auffe-Kacke-Hauereien kaum jemand erwartet. Jan hat die DISTURBERS bereits treffend als „unmodernen Punkrock“ bezeichnet, man könnte auch sagen „zeitloser“ Punkrock. Die Gitarren geben krachende Riffs und angenehme Melodien vor, der Schlagwerker trommelt schön nach vorne und vor allem SIR G.B. Glace überrascht mit geilem Gesang. Rau und dabei melodiös. Die Jungs wirken konzentriert, aber nicht nervös. Die Ansagen werden kurz und knapp gehalten – ich find`s genau richtig gemacht, durch zuviel Geprolle hat sich schon manche Band peinliche Ausrutscher geleistet. Gelungen auch die Coversongs von D.O.A. und TURBONEGRO. Tja, da finde ich ARSCHKRIECHER doch kein Haar in der Suppe. Ein wenig mehr ACTION auffer Bühne könnte guttun, aber hey, das hier ist der ZWEITE Gig und der erntet donnernden Applaus.

Jup, auf Anti-Control hatte ich mich nach gemeinsamen Gigs in Gießen und Schweinfurt besonders gefreut, bieten diese Haudegen doch hochenergischen Hardcore alter Schule. Besonders aktiv ist der Sänger, der keine Sekunde stillsteht, sich hinwirft, das Mikro in alle Himmelsrichtungen wirft, brüllt, flüstert und SINGT. Und dabei nie aufgesetzt wirkt – das hat echt nicht jeder drauf. Das Ganze wird in geile Abgeh-HC-Songs gepackt, die zwar viele Überraschungen, Tempowechsel und Schweinkram enthalten, aber irgendwie trotzdem flüssig rüberkommen. Geil!

Die Meierei-Bewohner geben danach eine Stellungnahme zum Ultimatum des Herrn Mehrens aus dem Liegenschaftsamt ab. Es wird unterm Strich klar gemacht, dass sich die Meierei NICHTS vorschreiben lässt und weiterhin ihr Ding durchziehen wird. Richtig so!

Draußen ist Kiels schlimmster HARDCORE-Tourist Karl-Heinz (Markenzeichen: die stets knipsbereite Kamera) wieder mal in seinem Element. Dem erfreuten MDC-Sänger präsentiert Kalle gesammelte Devotionalien: Seitenweise MDC-Fotos aus den 80ern, liebevoll in Folie verpackt sowie das ANTI SYSTEM #7 (von Januar `84), Kalles damaliges Fanzine, mit sechs Seiten MDC-Konzbericht drinne. Dave will alles dankbar zurückgeben, doch Kalle sagt: „No, no – keep it, it`s for you!“

Erstmal sind aber die X-Possibles anner Reihe. Am Mikro eine Punk-Barbie mit Augenklappe und aufgemalter Narbe. Die möchte gerne ultracool sein und macht einen auf lasziv und pseudo-provokativ. Als sich zunächst nix im Publikum regt, fragt sie „Are you people shocked by us?“ Klar, ey – wir Dorftrottel ham noch NIE eine Punkerin am Mikro gesehen. Soll das Geräkel und Röckchen-Gelüpfe schockierend sein? Vielleicht bei dir zu Hause im Amiland… „Do you want to lick the sweat off me?“ kokettiert sie mit ’nem Punk. Boah, SKANDAL! Musikalisch auch nur Belangloses, es wirkt, als habe sich die Band nur um die Sängerin formiert. Immer scheiße, wenn jemand vorgibt, etwas zu sein, was er/sie nicht ist. Auch wenn einige die Band abfeiern, lautet mein Fazit: Außer Posen nix gewosen.

Dann aber MDC, die heute zum vierten Mal in der Meierei spielen. Von den vorherigen drei Gigs sind mir zwei unvergesslich geblieben. Einmal waren MDC schwächer, aber letztes Jahr auf dem With Full Force haben sie einen MÖRDERGIG abgerissen, der nix an Power und Engagement vermissen ließ. So auch heute: HARDCORE mit kämpferischen und humorvollen Texten, der nichts mit dem tough guy/Prolltum-BULLSHIT späterer Pseudo-HC-Bands zu tun hat. „Business On Parade“, „I Hate Work“, „My Family Is A Little Weird“, „John Wayne Was A Nazi“, „Dead Cops“ – mein Gott, allein bei der Aufzählung dieser Highlights krieg ich wieder ’ne Gänsehaut. Dazu das charismatische und lockere Auftreten der Band, die verdammt sympathisch wirkt. Der Drummer zieht Grimassen, die nicht mehr von dieser Welt sind, vom dämlichen Redneck bis zum durchgeknallten Weirdo hat er alles drauf. Oder ist er gar ein Formwandler a la Schtar Treck? Im Pit geht ordentlich was ab, wobei einige Leute ihre Ellenbogen gar nicht mehr unter Kontrolle haben, was zum Teil abnervt.
Für Kalle gibbet ein leider unerfreuliches Erlebnis: Sein Film ist weg! Vollgeknipst mit BONEHOUSE in Berlin letztes Wochenende und eben jetzt MDC und aus der Kamera verschwunden! Geklaut oder rausgefallen?

Ich klemme mir die anstehende Party, von der mir aber noch Nettes berichtet wird: So setzen sich die Amis Kochtöpfe auf und schlagen dann Bierpullen über ihren derart geschützten Köppen kaputt! Ich sehe ein neues Hobby am Horizont…